Mittwoch, 18. September 2019

Anders befähtigt


Quilt "Pinocchio", von Brigitte Kälin
fertiggestellt 2005





Wer mich kennt, wird sich nicht wundern, dass mich dieser Zeitungsartikel von heute und alles drum herum mich sehr interessiert. Schaut doch hier. Es geht um Dysmelie, eine Fehlbildung an den Extremitäten. Bei mir selbst spielt das Medikament Contergan als Ursache keine Rolle, da ich schon bevor dies auf den Markt kam, geboren wurde. Es geht mir nicht um Sensation, sondern es ist ein Thema, das mich selber betrifft.


Heute ist es möglich, die Dysmelie bereits vor der Geburt zu diagnostizieren, was im Rahmen der Pränataldiagnostik stattfindet. Dabei kommt u. a. ein hochauflösendes Ultraschallgerät für eine Feinsonographie zum Einsatz, sodass sich die Fehlbildungen des ungeborenen Kindes visuell darstellen lassen. In der Regel entsteht eine Dysmelie während des 29. und 45. Schwangerschaftstages. In dieser Zeit entwickeln sich die Gliedmassen und daher gilt dieser Zeitraum als überaus sensible Phase.

Ich lernte von klein auf damit umgehen und betrachte es auch als eine positive Chance in meinem Leben. So schnell gebe ich nicht auf, egal was kommt. Mein Grundsatz ist: Es gibt immer einen Weg!

Bei der Selbsthilfegruppe Pinocchio bin ich auch schon viele Jahre Mitglied, als selber Betroffene. Am 25. August 2019 war der jährliche "Familienplausch" vom Verein angesagt. Es freute mich sehr, als ich meinen im Jahr 2005 für diesen Verein angefertigte Quilt zur Begrüssung bei der Eingangstüre aufgehängt sah. 😀

Dann hatte ich bei diesem Anlass die Ehre den Bionicman, Michel Fornasier, persönlich kennenzulernen. 


Blick 28.7.2019

Im September ist jetzt bereits das zweite Comicbuch erschienen, die ich wärmstens empfehlen kann. (Natürlich erwähne ich dies hier, ohne dass ich vom Verkauf profitiere!)

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Bionicman Taschenbücher - Band 1 und Band 2
 
Bis vor kurzem erledigte Michel Fornasier alles mit links: Er ist ohne rechte Hand zur Welt gekommen. Dann verändert sich sein Leben grundlegend: Eine hochmoderne bionische Handprothese eröffnet ihm eine Welt neuer Möglichkeiten. Eine Welt, die er nicht für sich alleine behalten möchte: Fornasier gründet sein Herzensprojekt «Give Children a Hand».
Gemeinsam mit Ärzten, Designern und Besitzern von 3D-Druckern fertigt die Charity massgeschneiderte Handprothesen für Kinder.

Doch die betroffenen Kinder brauchen nicht nur Hilfsmittel. Sie brauchen auch ein Vorbild: Mit «Bionicman» haben Michel Fornasier (Autor) und David Boller (Zeichner) eine Comic-Serie geschaffen, die Mut macht. Der einhändige Superheld macht sich in seinen Abenteuern für Schwächere stark; sein wichtigster Muskel ist dabei sein Herz.

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Ich finde alles, von der Grundidee bis zur Umsetzung, überaus gelungen. Die Geschichten sind sehr persönlich, greifen wichtige Themen auf und vermitteln auf liebevolle Art moralische Werte und Menschlichkeit. Michel selbst ist sehr authentisch und man merkt wie wichtig ihm die Thematik ist. Meiner Meinung nach ein Comic, dass Kindern mit einer Beeinträchtigung sehr viel Mut machen kann und auch in die Hände von Kindern ohne Handicap fallen sollte.




Genauso empfinde ich es auch. Ich bin nicht behindert, einfach etwas anders, aber mit vielen Fähigkeiten. Schon mein Leben lang machten mir eben genau viele Tätigkeiten grosse Freude, für die man eigentlich zwei vollkommene Hände braucht. In der Schule konnte ich sogar meinen Freundinnen beim Stricken weiter helfen, wenn diese damit Probleme hatten. Bis heute stricke ich sehr gerne. Sogar an meine linke Hand angepasste Handschuhe gehören dazu, da ein "normaler" mir vom Arm abrutscht. Nach der Schulzeit lernte ich im kaufmännischen Bereich und da das „Tastaturschreiben 5-Finger-System“, auf einer der ersten IBM Kugelkopf-Schreibmaschine. Was aber hier im Blog jedoch viel weniger zeige ist, dass mich die Textilkunst seit den 1980er Jahren bis heute tief berührt und ich darin voll aufgehen kann. Zeit und Raum kann ich dabei vergessen und es gibt mir sehr viel Kraft und Energie. Das sei hier einfach noch kurz erwähnt.

Das zeigte ich hier kürzlich:


"OFFENHEIT", 50 x 70 cm
 fertiggestellt am 29.1.2019
Mixed Media:
Wolle und Seide selbst gefärbt, gestrickt, gefilzt, 
vergoldet, bestickt mit selbst gefärbten Baumwoll- und Seidengarnen,
Kupferreste,
auf Keilrahmen, mit Acryl bemalt, gestempelt
 
Somit bin ich wieder am Anfang dieses Beitrages gelandet. Auch wenn jeder meine Fehlbildung an meiner linken Hand sieht, ich verstecke diese auch nicht, habe ich doch viele wunderbare Fähigkeiten.

Mir bedeuten die wertvollen inneren Werte eines Menschen so viel mehr, als ein kleiner Schönheitsfehler, - wie ich meine linke Hand seit kurzem bezeichne.


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3 Kommentare:

  1. Wow - welch schöner und offener Bericht!

    Ganz liebe Grüße
    Gwen

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  2. Vielen Dank für diesen offenen, berührenden und informativen Beitrag, liebe Brigitte. Danke auch für den Literaturtip, das ist hier für meine Arbeit hilfreich. Insbesondere für Kinder sind solche Vorbilder so wichtig. Deine textile Arbeit bewundere und bestaune ich ja schon länger und bin sehr beeindruckt wie du das alles mit "anders befähigt" leistest. Ich finde das einen schönen passenden Begriff, der nicht die meist defizitäre Medizinsprache verwendet,sondern Ressourcenorientiert ist. Was geht trotzdem? Wie schön dass dein Quilt dort im Eingang hängt. Dein Bild Offenheit und trotzdem Bodenhaftung ist auch sehr aussdrucksstark und gefällt mir.Danke und ganz liebe Grüße Anke

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  3. Ein sehr wichtiger und tiefer Post, um zu verstehen, dass in jedem Leben und jeder Art der Kreativität eine eigene unverwechselbare Ausdrucksweise liegt. Ich finde Deine Grundeinstellung sehr stimmig und kann mich nur anschließen, das jeder unserer Wege davon geprägt ist, was und wer wir sind - mit allen was dazu gehört. Man wächst mit der Herausforderung und des Selbstanspruchs.

    Herzliche Grüße von Senna

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